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Vom Schloß zu Fuß über den See in die Schweiz

Ein Erlebnisbericht ehemaliger Hersbergschüler aus Immenstaad zur „Bodenseegefrörne” im Februar 1963

Wir waren gerade erst im 2. Kurs am Aufbaugymnasium St. Joseph Hersberg, als sich für uns im Januar 1963 die überraschende Möglichkeit bot, mit 7 Patres und 3 Brüdern nach Rom zu fahren. Der besondere Anlass war die Heiligsprechung von Vinzenz Pallotti am 20.01. 1963.

Schon auf der Bahnfahrt in den Süden bekamen wir ein Vorgeschmack davon, dass aus diesem Winter noch etwas werden könnte. Weite Teile des Apennins und der Tiefebene hatten eine geschlossene Schneedecke. In Rom selbst herrschte frisches Mantel-Wetter. Als wir von Rom zurück kamen, empfing uns Winterwetter  mit richtiger Kälte. Das obligatorische Waschen am Rande des großen Schlafsaals wurde zum Härtetest. Die frostigen Tage, aber vor allem die Nächte nahmen zu. Die Seeränder setzten dickes Eis an. Bei den langen Spaziergängen in Richtung Hagnau beobachteten und prüften wir immer wieder die Eisdecke.

Eines Tages, Anfang Februar kamen die zwei älteren Schüler Edgar Braun und Joachim Bronder mit der Nachricht, das Eis würde tragen und wir könnten eigentlich gleich am Sonntag über den See in die Schweiz laufen.

Diese Meldung kursierte nur in einem ganz kleinen Kreis von Schülern des Internats. Der besonders mutige Bronder meinte, wir müssten bald gehen, bevor es offiziell durch den Präfekten Pater Sebastian Müller verboten wird. Bronder der Draufgänger und Edgar Braun der Besonnene übernahmen die Vorplanung und die Besorgung der „Ausrüstung”. Diese Ausrüstung bestand aus einem Paar Schlittschuhen und einer langen Leine, an der Bronder als sogenannter Eistester auf Schlittschuhen etwa 10 Meter vor uns laufen sollte. Woher Bronder auf einmal so schnell passende Schlittschuhe organisierte, war uns schleierhaft. Gesprochen wurde darüber nicht. Die lange Leine kam aus dem landwirtschaftlichen Geräteschuppen. Das zu besorgen war die leichteste Übung. Ich selbst vertraute mehr auf den geschickten und sehr abgeklärten Edgar Braun. Heute würden wir sagen, ein wahrlich cooler Typ. Edgar machte eigentlich nie etwas falsch und war bei den Patres sehr geschätzt und angesehen.

Mein gleichaltriger Kursgenosse Manfred Berberich fand in dem Vorhaben für uns als Nachläufer kein großes Risiko. Wenn Bronder einbrechen sollte, werden wir ihn schon halten.

Der starke Edgar  hält ihn sicher, so hofften wir. Ich selbst hatte wohl die größten Bedenken und schlief in der Nacht vor dem Aufbruch sehr unruhig. Ich sagte mir immer wieder, Edgar geht mit, das muss reichen. Die Route war für uns ungefähr klar.

Eine etwas schmälere Seestelle in Richtung über Hagnau, Meersburg oder gar Überlingen war für uns zeitlich gar nicht möglich. Wir hatten nur den Sonntagnachmittag von 13.00 Uhr bis 16.00 Uhr zur Verfügung. Um 18.00 Uhr mussten wir zum Abendessen unbedingt zurück sein, ansonsten hätte uns Pater Müller sofort vermisst.

Beim Badeturm unter dem Schloss Kirchberg betraten wir die unendliche Eisfläche. Es war sonniges kaltes Wetter, aber keine klare Siebt über den See. Ein frostiger Dunst lag auf dem Eis.

Sichtweite etwa 200 Meter. Vorsichtig und doch elegant bewegte sich Bronder auf den Kufen. Sicher nicht das erste Mal.

Auf den ersten paar hundert Metern erschien uns die Eisdichte stark und fest, aber danach wurde es unangenehm. Lange hohe Pfeiftöne zogen unsere Magenwände zusammen. Es wurde nur noch wenig gesprochen. Als das Pfeifen der Eisdecke stärker wurde, liefen wir immer mehr versetzt, um das Gewicht zu verteilen. Bronder und Braun liefen aus Sicherheit weiter voraus mit der Leine. Keiner wollte so richtig umkehren.

Bronder sprach uns Mut zu und mobilisierte unseren Ehrgeiz mit der Bemerkung : “Wir bewältigen vielleicht die längste und breiteste Stelle. Die Schweizer werden staunen, wenn wir aus dieser unendlich scheinenden Eisfläche auftauchen. Weiter oben Richtung Hagnau/Meersburg kann es ja jeder schaffen.”

Jetzt wurde uns allen endgültig klar, es gibt kein zurück . Schon lange sahen wir nach beiden Seiten keine Uferseiten mehr.

Ob Bronder doch einen Kompass hatte, blieb uns unklar. Gesehen haben wir keinen. Nach etwa 70-80 Minuten sahen wir schwarze Punkte auf dem Eis. Die Sicht wurde besser. Aus den Punkten wurden einzelne Eisläufer und mit der· Zeit ganze Gruppen von Menschen auf der Schweizer Seite, die wohl die Seegefrörene feierten. Als sie uns mit der Zeit sahen und wohl vermuteten, dass wir von der deutschen Seeseite kommen, bekamen wir einen herzlichen Empfang und gleich etwas zu essen und zu trinken.

Es dauerte keine 5 Minuten und vor uns stand mit lachender Miene ein Schweizer Grenzwächter. Diese besondere Begegnung haben wir dann gleich durch ein Foto festgehalten. Der Zöllner verzichtete auf jede weitere Kontrolle, solange wir keinen festen Boden betreten. Die Zeit drängte, wir mussten ja ungefähr den gleichen Weg von dem Gebiet um Altnau zurück nach Kirchberg/ lmmenstaad. Mit etwas weniger Angst und schnellem Schritt traten wir den Rückweg an. Die Kaffeezeit auf dem Hersberg haben wir natürlich voll verpasst. Zum Abendessen kamen wir gerade noch rechtzeitig an. Stolz stand auf unseren Mienen, aber dafür mussten wir als kleine Strafe schweigen. Angeberei war nicht möglich. Schon nach einer Woche war unser Schweigen umsonst. Pater Müller hörte von einer Seeüerquerung der Gruppe Hinsen, ebenfalls Hersbergschüler, die es an einer engeren Stelle in Richtung Überlingen wagten. Jetzt kam auch unsere Untat heraus ! Wir wurden  einzeln vorgeladen und von daher kann ich nur noch von mir sprechen, wie es mir persönlich ging bei dieser unvergesslichen Audienz.

Mit dieser Erfahrung  möchte ich die Erinnerung  an die Seegefrörne  abschließen.                                               ·

Das Gespräch mit Pater Müller verlief etwa nach folgendem Wortlaut : Pater Müller : “Gibst du zu, dass du auch dabei warst ?” Schüler Hettig : ”Ja”

Pater Müller : “Du Rhinozeros, wie konntest du mein Vertrauen so hintergehen. Was hätte ich bei einem Unfall deiner Mutter sagen können? Nein, ich darf gar nicht daran denken. Mit diesem Verhalten bist du ein Nagel an meinem Sarg !”

Schüler Hettig schweigt und kämpft gegen die Tränen. Die Bemerkung mit der Mutter war hart.

Pater Müller : “Verschwinde jetzt – das hat Folgen !”

Jahre später hörte ich von Pater Hinsen, dass nur das Eintreten seiner Mutter für uns alle Pater Müller etwas beruhigen konnte. Ein Rauswurf aus dem Internat soll für kurze Zeit in der Überlegung der Erzieher gewesen sein. Sicher hat auch die überaus angesehene Person Edgar Braun eine wichtige Rolle gespielt.

Schlussbemerkung: Am 03.03.1963 wagt Präfekt Sebastian Müller mit 35 Schülern, den zugefrorenen Bodensee zu überqueren. Die Stelle ist mir leider unbekannt, da ich trotz großer Erfahrung nicht mehr mit durfte. In der Zwischenzeit, also nach uns, soll man einige Patres auf dem Eis gesehen haben, natürlich mit Erlaubnis. Pater Dietrich u. P. Zangerle versuchten es auch, wobei der Letztere fast eingebrochen wäre. Nur ein kühner Sprung auf eine stabilere Eisplatte soll ihn gerettet haben. So berichtet der Hersberg-Chronist Pater Bertold Geier SAC auf Seite 34 in seiner Erweiterung. der Chronik von 1947-2002. Von unserer Erstbegehung ist leider nicht die Rede, weil unsere Unvernunft größer war, als das Jahrhundertereignis an sich.